MARIO REIS. Untersuchungen an der Schnittstelle von Kultur und Natur

Salzufler Brocken

Mit den neuen skulpturalen Arbeiten Salzufler Brocken knüpft Mario Reis konsequent an seine künstlerische Untersuchungen an, die sich an der Schnittstelle von Kultur und Natur bewegen. Dabei lotet er sensibel deren Übergänge aus und fragt damit zugleich, ob die Grenzen dessen, was „Natur“ bezeichnet, klar zu definieren sind.

Werden die unterschiedlichen Werkreihen von Mario Reis in den Blick genommen, kann mit „Natur“ nur etwas gemeint sein, das durch Kulturtechniken wie Kunst und Wissenschaft beschrieben wird. Kultur und Natur wird in seinen Kunstwerken sowohl als Gegensatz wie auch als Zusammenhang formuliert.

Unter Kultur (lat. cultura: Bearbeitung, Pflege, Ackerbau, von colere: wohnen, pflegen,
verehren, den Acker bestellen) wird im weitesten Sinne alles verstanden, was der Mensch
selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht
veränderten Natur. Kulturleistungen sind demzufolge alle formenden Umgestaltungen eines
gegebenen Materials, also die Umformung von „Natur“. Dies geschieht in der Technik, mit
geistigen Gebilden wie Moral, Religion und Wissenschaft und in den Künsten. Der Ausdruck
„Bildende Kunst“ spiegelt diese Sichtweise besonders plastisch.

Mario Reis eignet sich Natur an und formt diese um, - in Kunstgebilde. Scheinbar paradox
entfernt sich damit jedoch nicht der Blick auf Natur, sondern im Gegenteil: Der Blick auf
Natur, ihre natürlichen Prozesse und Phänomene wird durch seine Kunstwerke erheblich
geschärft. So auch mittels seiner Naturaquarelle, mit denen der Künstler weltweit bekannt
geworden ist. In den Naturaquarellen malen sich die Flüsse unserer Welt selbst.

Dazu installiert Mario Reis in einem ausgeklügelten Verfahren Tücher in die Ströme und nutzt die
physikalische Kraft des fließenden Wassers als Pinsel. Die im Wasser transportierten Erden,
„aquarellieren“ und strukturieren die Tücher in einem unerwarteten Farbspektrum, das von
gelb, orange, violett, rot, grün, über grau, braun bis hin zu schwarz reicht. Die Flüsse
hinterlassen gleichsam „Fingerabdrücke“. In dieser sensiblen Interaktion von Künstler
(Kultur) und Fluss (Natur) entsteht ein eigendynamisches Selbstportrait des jeweiligen
Gewässers.

Für seine Werkreihe der Oxydationen greift Mario Reis wiederum auf ein natürliches Material zurück. Es ist Salz. Die Idee zu dieser Werkgruppe entsteht 1989 während eines Naturaquarellprojektes, das Mario Reis durch 14 Länder Afrikas führt. Auf seiner Reiseroute durchquert er die Chalbi-Salzwüste in Nordkenia. Dort realisiert er die hohe Qualität von Salz als Malmittel, das durch seine kristalline Struktur das Licht in die verschiedensten Weisen reflektiert. Zurück in Deutschland beginnt er, seine Erfahrungen der Reise zu verarbeiten. Zuerst entstehen monochrome weiße Salzarbeiten, doch schon bald entwickeln sich daraus die Oxidationsarbeiten, bei denen dem Salz Goldfarben beigemischt werden, wobei der Metallgehalt der Farben zu einer chemischen Reaktion führt, die oxidierte Grün- bis Brauntöne entstehen lässt.

Salz, das „weiße Gold“, hat auch Bad Salzuflen gegründet. Uflon (Althochdeutsch: am Wald) und die dortige Salzstätte werden Mitte des 11. Jahrhunderts erstmals erwähnt. Im Mittelalter führt die Nutzung der salzhaltigen Paulinenquelle zur Errichtung der ersten Saline. Dank des gewinnbringenden Salzhandels entwickelt sich die Siedlung bald zur Stadt. Die hohe Heilkraft des Wassers zeitigt einen Kurbetrieb, so dass Salzuflen 1914 den Namenszusatz „Bad“ erhält.

Ein Überbleibsel der ursprünglichen Salzgewinnung sind die Gradierwerke, die heute ausschließlich für Kurzwecke genutzt werden. Ein Gradierwerk ist eine Anlage zur Salzgewinnung. Sie besteht aus einem Holzgerüst, das mit Reisigbündeln verfüllt ist. Das Verb „gradieren“ bedeutet „einen Stoff in einem Medium konzentrieren“. Im Falle eines Gradierwerks wird der Salzgehalt im Wasser erhöht, indem Sole durch das Reisig hindurchgeleitet wird, wobei auf natürliche Weise Wasser verdunstet. Dabei lagert sich Sole auch an den Dornen ab. Für Kurzwecke wird der Umstand genutzt, dass durch die herabrieselnde Sole Luft in der Nähe des Gradierwerks mit Salz angereichert wird. Das Einatmen salzhaltiger Luft befeuchtet die Atemwege und beeinflusst die Wandungen der Atemorgane positiv.

Als Mario Reis in Bad Salzuflen die Gradationswerke entdeckt, ist er unmittelbar von der ästhetischen Präsenz des abgelagerten Dornsteins in Form von großen Brocken an den Reisigwänden der Gradierwerke beeindruckt. Jeder Brocken ist eigen geformt, entstanden in seiner ihm eigentümlichen Zeit. Reis erkennt sofort die Parallelität dieses Prozesses mit dem Entstehungsprozess der Naturaquarelle, die ebenfalls durch Sedimentierung erschaffen werden. Bei beidem, den Naturaquarellen wie auch den Salzufler Brocken wird dies jedoch erst möglich durch die kulturelle Einwirkung des Menschen, der die Voraussetzungen für die jeweilige Sedimentierung schafft.

Mario Reis: „Fasziniert von den Strukturen und der Farbigkeit war mir sofort klar, dass ich mich in einer neuen Werkgruppe damit auseinandersetzen werde. Die lebenden Farbtöne auf dem Gradierwerk haben mich stark bewegt und die verinnerlichte Stimmung ist bis heute wach geblieben. Sobald aber die Ablagerungen auf dem Geäst trocknen, verlieren sie diese Farbigkeit. Wie nun kann ich als Künstler Teile des natürlichen Prozesses einfangen? Wie kann ich die Farben lebendig halten? Dabei geht es mir nicht um eine 1:1 Nachbildung. Ich möchte den Erinnerungen eine neue ästhetische Materialisierung zu geben und den Blick auf den Prozess und seine Schönheit lenken: Das kommt dabei heraus, wenn Kultur und Natur sich vermählen, wenn die Grenzen fließend werden...“

Mit den Salzufler Brocken führt Mario Reis seine künstlerischen Untersuchungen an den Übergängen von Kultur und Natur fort. Mario Reis löst den Dornstein aus den Wänden heraus, wandelt und bearbeitet es, bringt es „in Form“ und färbt sie von Neuem ein, so dass auch außerhalb des ursprünglichen Kontextes die Salzufler Brocken ihre ästhetische Qualität entfalten. Doch diesmal ist es eine ästhetische Qualität, die durch die vom Künstler geformte Umgestaltung des gegebenen Materials entsteht.

Das filigrane Reisig, das vom Salz umschlossen ist, gerät mittels der künstlerisch gestaltenden Kraft zu einem abstrahierten Naturzitat. Es definiert maßgeblich die skulpturalen Attribute der Objekte, die jeweilige Ausformung, die Dynamik und Ausrichtung der Brocken. Das Reisig betont offene und geschlossene Formen, bezeichnet Fülle und Leere, durchdringt die Formen, liegt sachte an, stützt, bildet Kraftlinien aus, greift in den Raum hinein, wie es den Raum zugleich auch aktiv in die Skulpturen hineinbezieht. Dabei reizt das Konstruktive des Geästs stets zum Vergleich mit der organischen Form der Brocken heraus.

Die Oberflächen des Salzes und des Geästs schimmern in changierenden Grün- und Goldtönen, vermitteln die Schwere und Festigkeit von Bronze. Die Brocken selbst erzählen vom Prozess ihrer Entstehung, sie sind materialisierte, manifestierte Zeit, Fluss und Dauer zugleich. Diese Dynamik in all ihren dialogischen Aspekten können die Brocken jedoch nur in ihrer neuen, vom Künstler geschaffenen Isolierung gewinnen. Die Salzufler Brocken, durch Kulturleistung entstanden, sind also solche schon veränderte Natur. Durch den Eingriff von Mario Reis sind sie nun in einem weiteren Schritt zu Kunst transformiert. Sie sind Kunststücke.

© der Abb. Mario Reis, Claus Dieter Tholen
© Text: Dr. Stefanie Lucci